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Peter Walther: “Fieber. Universum Berlin 1930-1933”
Blatt & Bild Archiv-Recherchen
Veröffentlicht von Corinna von List in Rezension · 8 Mai 2020
Die biografischen Portraits umfassen Persönlichkeiten aus der Politik ebenso wie Journalisten, Literaten, gescheiterte Existenzen und einen Hellseher. Dazu zählen die aus jedem Geschichtsbuch bekannten politischen Akteure wie der KPD-Vorsitzende Ernst Thälmann und die Reichskanzler Heinrich Brüning, Franz v. Pappen und Kurt v. Schleicher. Peter Walther beschränkt sich jedoch nicht auf deren politische Werdegänge, sondern bindet gekonnt deren private Seite mit ein, ohne dabei in das billige Klischee der Homestory zu verfallen. Darüber hinaus bezieht er auch weniger bekannte Personen in die Reihe seiner Biografien ein wie die Journalistin Dorothy Thompson. Sie interviewt im November 1931 in Berlin einen „hysterischen Hitler“, den sie für den Prototyp des kleinen Mannes hält und ihn damit zunächst unterschätzt. Nach ihrer Ausweisung aus Deutschland 1934 wird sie jedoch zu einer der einflussreichsten Hitler-Gegnerin in den USA.

Eine der schillerndsten Gestalten ist der Hellseher Erik Jan Hanussen, der von der Berliner Hautevolee sehr geschätzt wird. Er verdient sein Geld nicht nur mit Séancen, sondern auch mit dem Verkauf einer Perlenschnur gegen „Schlaflosigkeit, Platzangst, Arbeitsunlust, Mutlosigkeit, Schüchternheit, Onanie, Nägelkauen, Jähzorn, Nervenkrisen, Rauchen, Stottern und unglückliche Liebe“ und mit politischen Horoskopen. Den Aufstieg des Nationalsozialismus sollte er richtig vorhersagen, seiner Ermordung durch die SA im März 1933 entging er durch Weissagung indes nicht.

Im zweiten Teil des Buches stehen die historischen Ereignisse im Vordergrund, wobei Peter Walther Biografisches und Politisches meisterhaft zu einem inhaltsreichen Gesamtbild verwebt. Während Deutschland wie kaum ein anderes Land durch die Weltwirtschaftskrise im Oktober 1929 erschüttert wird, findet die politische Klasse im Berliner Regierungsviertel keine Antworten auf die materiellen Nöten und Zukunftsängste der Bevölkerung,  die unter Massenarbeitslosigkeit, politischer Hetze, Streiks und Straßenschlachten zwischen den extremistischen Lagern der KPD und NSDAP leidet. Stattdessen kreist die Politik um sich selbst und ergeht sich in Parteistreitereien und persönlichen Intrigen.  So dreht sich ab 1930 das Karussell der Neuwahlen und sich ablösenden Reichkanzler immer schneller, die jeder für sich um die Gunst der greisen Reichspräsidenten Hindenburg buhlen. Währenddessen gelingt der NSDAP im Hintergrund der Aufstieg zur Macht mit der Ernennung Hitlers zum Reichskanzler im Januar 1933.

Peter Walther unterstreicht, dass Geschichte keine langweilige Aneinanderreihung von Jahreszahlen und Ereignissen ist, sondern vielmehr von Menschen gemacht wird, die auch in hohen Staatsämtern oder anderen gesellschaftlich verantwortungsvollen Stellungen menschliche Stärken und Schwächen, Sorgen, Zweifel und Ängste haben, die deren Handeln beeinflussen ‑ damals wie heute.

Die letzten Jahre der Weimarer Republik könnten kaum spannender und kenntnisreicher nachgezeichnet werden als dies Peter Walther mit seinem packenden Erzählstil gelingt. Dieses Buch wird auch jene in ihren Bann ziehen, die sonst um Geschichtsbücher eher einen Bogen machen.



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